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Ein E-Mail über das Glück

Heute bin ich zufällig über ein E‑Mail zum Thema »Glücklichsein« gestolpert, das ich vor einem Jahr an eine Freundin geschrieben habe.

Vielleicht sind sie ja für den ein oder anderen noch nützlich — daher veröffentliche ich das E‑Mail hier:

Hallo da draußen,
Zu deiner Glücksfrage möchte ich jetzt gleich noch antworten, weil sie einen Punkt anspricht, über den ich die letzten Wochen (und generell in meinem Leben) oft nachgedacht hab.

Zunächst: ich verstehe prinzipiell gut, was du meinst! Es ist natürlich problematisch, das eigene Glück in die Zukunft zu projizieren und von diesem oder jenem Erfolg oder Ereignis oder Ziel abhängig zu machen. Also der Satz »wenn das und das eintritt, werde ich endlich vollkommen glücklich sein« ist sicher in vielerlei Hinsicht problematisch, illusorisch und kann nur zu Enttäuschungen und Konflikten führen.
Man verschiebt damit das eigene Glück in die Zukunft und knüpft es an eine bestimmte Bedingung, was besonders blöd ist, wenn es ein materiell-konsumistisches Ziel (Haus, Auto, Karriere …), oder eine Erwartung an einen bestimmten anderen Mensch ist, die dieser womöglich gar nicht erfüllen kann oder will.

Allerdings ist der Umkehrschluss, der heutzutage regelmäßig in unserer humanistischen Gesellschaft gepredigt wird, nämlich »Du kannst das Glück nur in dir selber finden und bist daher selbst ganz alleine für dein Glück verantwortlich« bei genauerem Hinsehen meines Erachtens genau so problematisch!
Ich hab jetzt tatsächlich 32 Jahre gebraucht um das zu kapieren …
Ich will dir erklären, warum ich das denke — es gibt mehre Gründe:

1. Der Mensch ist ein soziales Wesen 
Nur als solches ist er nur im sozialen Kontext überlebensfähig. Unser größter evolutionärer Vorteil gegenüber anderen Tieren liegt in der Fähigkeit, sogenannte »intersubjektive Realitäten« konstruieren zu können (was das genau bedeutet wird hier sehr gut erklärt.)
Intersubjektive Realitäten verschaffen uns den Vorteil, dass wir in riesigen Maßstäben kooperieren können, auch mit uns unbekannten Individuen (während andere Tiere nur mit wenigen, ihnen i.d.R. bekannten Individuen kooperieren). Es ist also nicht weiter verwunderlich, dass unser Empfinden von Glück oft ganz wesentlich von unserem sozialen Umfeld und unserer Einbettung darin abhängt, da dies evolutionär absolut überlebensnotwendig ist. Anders rum gesagt: Könnten wir dauerhaft alleine glücklich sein, hätten wir als Menschen nicht überlebt.

2. Hormonell-biologische Determinanten: 
Das Empfinden von Glück ist letztlich ist ein biochemischer Prozess, bei dem v.a. Dopamin im Spiel ist und bei dem es viel um Bedürfnisbefriedigung geht. Ein Mensch, dessen Grundbedürfnisse (siehe auch: Maslowsche Bedürfnispyramide) nicht befriedigt sind und schon länger nicht mehr befriedigt werden konnten, wird nur sehr schwer Glück empfinden können. Hungrig und durstig ist man echt nur schwer glücklich! Und sexuell völlig »untervögelt«, sowie ausgehungert nach körperlicher und emotionaler Nähe wird es auch schwierig mit dem Glücklichsein — wobei es bzgl. Sexualität meiner Beobachtung nach die männlichen Exemplare der Menschen aus physiologischen/hormonellen Gründen ein wenig härter trifft, als die weiblichen. Mit spirituellen Übungen wie Meditiation und viel Achtsamkeit und Konzentration kann man ggf. trotz unerfüllter Grundbedürfnisse Glück empfinden. Diese Fähigkeit haben aber wohl nur die wenigsten von uns entwickelt! Und schließlich gibt es auch stoffwechsel‑, licht- und krankheitsbedingte Ursachen, warum man aus rein biologischen Gründen nicht glücklich sein kann, egal wie sehr man sich »anstrengt«.

3. Druck ist kontraproduktiv
Der Druck, der durch eine übertriebene »Jeder-ist-seines-eigenen-Glückes-Schmied-Philosophie« entsteht, kann enorm kontraproduktiv sein und sehr unglücklich machen! Denn im Umkehrschluss heißt das ja, dass wenn ich es nicht schaffe, glücklich zu sein, ich wohl ein schlechter Schmied bin!? Ich mache also irgendwas falsch oder etwas in mir ist falsch!? Und das Gefühl, etwas falsch zu machen oder falsch zu sein, hat sicher noch niemanden glücklich gemacht …

4. Das Umfeld ist wichtig
Das äußere Umfeld ist außerdem sehr relevant, und hat sehr viel Einfluss auf das Glücksempfinden. Eine Wohnung in der ich mich wohl fühle, ein interessanter Beruf, Zeit für mich, intakte Natur in der ich z.B. Sport machen kann, ein reichhaltiges kulturelles Abgebot … all das macht es sicherlich leichter, glücklich zu sein — sofern es verfügbar ist. Der Gedanke »Mein Umfeld ist nicht für mich passend, damit ich glücklich sein kann« kann tatsächlich valide sein — er ist aber natürlich kein Freibrief, mein Glück komplett zu externalisieren, denn ich kann mir in vielen Fällen mein Umfeld zumindest teilweise frei gestalten. Allerdings ist diese Gestaltungsfreiheit ein luxuriöses Privileg, das viele Menschen kaum haben! Das muss uns klar sein: Menschen, die in Krieg oder großer Armut aufwachsen, haben wesentlich weniger Möglichkeiten, ihr Umfeld glücksfördernd zu gestalten, und sind meist schon mit Punkt 2 (Grundbedürfnisse) am kämpfen …

5. Der kulturelle Missbrauch des »Glücks«
Politisch/normativ betrachtet, leben wir gewissermaßen in einer Glücksdiktatur: Medien, Werbung und unzählige Geschichten um uns herum erzählen alle vom Glück und verkaufen alle ihre eigenen »Wege«, wie man zum Glück kommen soll. Das ist insofern ein Problem, da das »Glück« hier in einem perversen Maße für politsche, insbesondere kapitalistische Ziele instrumentalisert wird und es in Wahrheit natürlich nicht um eine möglichst glückliche Bevölkerung geht, sondern darum, Konsumenten und Bürger zu gewünschten Handlungen (z.B. Arbeiten & Konsumieren) zu erziehen.
Problematisch ist in diesem Kontext auch, dass oft eine Scheinwelt der »scheinbar Glücklichen« aus dem normativen Glückszwang entsteht: Wenn eine Familie z.B. von außen glücklich »aussieht«, gilt sie als erfolgreich — wie es innen in den Herzen der Familienmitglieder aussieht, spielt gesellschaftlich keine Rolle. Weiterhin sollte man bedenken, dass die »Glücksnorm« auch kulturell-kreativ betrachtet nicht unbedingt vielfaltsfördernd ist: viele beeindruckende Künstler waren depressiv und oft entsteht das Erhabene im Kontrast zum Schrecklichen oder aus dem Schrecklichen. Was zum nächsten Punkt führt:

6. Dualität — kein Glück ohne Leid!
Schmerz und Freude hängen voneinander ab – ohne Leid wäre Freude ein Zustand, der bald zu einer Gewohnheit würde, die uns nicht mehr erhebend vorkäme. Freude und Leid gehen oft nahtlos ineinander über, können sogar gleichzeitig erfahrbar sein. Sie verändern sich ständig, wie alles im Leben. Das haben vor allem die Buddhisten sehr hervorragend erkannt:
»Die meisten Menschen fürchten sich davor, zu leiden. Doch das Leiden ist eine Art Schlamm, der die Lotosblüte des Glücks zum Erblühen bringt. Es gäbe keine Lotosblüte ohne den Schlamm.«
(Thich Nhat Hanh)
Die Aussage »[…] dann bin ich vollkommen glücklich […]« ist demnach schon per se paradox, egal an welche Kondition man sie knüpft. Es gibt kein vollkommenes Glück. Glücksempfinden ist eine Limesfunktion. 😉

7. Sinn statt Glück
Dieser Punkt ist meiner Meinung nach der wichtigste:
Wir verkennen die grundlegende Bedeutung des Glücks komplett, wenn wir es als oberstes Ziel des Lebens definieren! Wie oft habe ich in irgendwelchen Onlineprofilen schon gelesen »Ziel des Lebens: Glücklich sein!«
Ich denke, das ist ein Problem, da Glück eine volatile Empfindung ist, die schon rein biochemisch überhaupt nicht darauf ausgelegt ist, von Dauer zu sein. Glück ist und bleibt volatil! Es wäre daher ziemlich anstrengend, sein Leben auf Glücksmaximierung auszurichten. Es gibt jedoch eine andere positive Empfindung, die im Gegensatz zum Glück sehr wohl von Dauer sein kann und sich daher viel besser als Ziel des Lebens eignet: Sinn.
Sinn ruht auf vier Säulen:
— Menschliche Verbindungen (»Das Empfinden von Zugehörigkeit und Gemeinschaft mit anderen Menschen«)
— Lebenszweck (»Die eigenen Stärken nutzen, um der Gemeinschaft zu dienen«),
— Transzendenz (»Spirituelle Verbindung zu einer größeren Einheit«),
— Storytelling (»Die Geschichte, die ich um mein Leben und dessen Sinn herum konsturiere«)
Hierzu ein kurzer Vortrag, der den Unterschied zwischen Glück und Sinn sehr gut auf den Punkt bringt:
https://www.ted.com/talks/emily_esfahani_smith_there_s_more_to_life_than_being_happy


8. Menschen sind Dividuen

Im Kontext der vierten Säule von Sinn, dem Storytelling, möchte ich noch anführen, dass wir Menschen keine Individuen sind — wir sind Dividuen! Das bedeutet, wir bestehen alle aus zwei Ichs, nämlich dem erlebenden Ich und dem erzählenden/interpretierenden ich. Ersteres erlebt die realen Geschehnisse unseres Lebens im Jetzt — während Zweiteres konstant damit beschäftigt ist, diese chaotischen Einzelerlebnisse zu verarbeiten, zu interpretieren und in einen Sinnzusammenhang zu stellen. Interessanterweise identifizieren wir uns meist mehr mit unserem erzählenden Ich als mit dem erlebenden. Auch deshalb wird es zusätzlich schwierig, das Glück nur in mir selbst zu finden — denn welches Ich soll ich denn nach dem Glück befragen? Das erlebende oder das erzählende? Zumal beide sich zwar gegenseitig beeinflussen, aber selten wirklich kongruent sind. 😉 

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So weit meine aktuellen Gedanken zum Thema Glück — jederzeit offen zur weiteren Diskussion. 🙂

Darüber hinaus möchte ich in diesem Kontext hier noch vier weitere Videos empfehlen (am besten alle drei mit jeweils einer Stunde Abstand dazwischen anschauen):
https://www.youtube.com/watch?v=n3Xv_g3g-mA
https://www.youtube.com/watch?v=MBRqu0YOH14
https://www.youtube.com/watch?v=WPPPFqsECz0
https://www.youtube.com/watch?v=rvskMHn0sqQ

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